Nach dieser Schilderung der Grund- und Rahmenbedingungen ländlichen Lebens an der Wende vom 15. zum 16. Jh. ist zu fragen, inwieweit sich diese Lebensrealität so verändert hatte, dass sich die Menschen zum Aufstand entschlossen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Es gibt keine Hinweise, dass in den Jahrzehnten vor 1525 die grundherrlichen Abgaben wesentlich stiegen. Bei einem Vergleich der Abgaben von ca. 35 Weißenauer Gütern in Albersfeld, Alberskirch, Oberzell, Taldorf und Wernsreute in den beiden Zins- und Gültverzeichnissen von 1470 und 1492/95 mit Nachträgen bis 153278 lassen sich immerhin in 21 Fällen Erhöhungen von Abgaben feststellen. In etlichen Fällen mussten nur mehr Eier abgeliefert werden, gelegentlich 1-2 Hühner mehr. Gravierender betroffen waren neun Höfe, bei denen in je sieben Fällen die Geldzinsen und die Getreideabgaben erhöht wurden. Immerhin in drei Fällen wurden die Getreideabgaben verdoppelt, die Erhöhung der Geldzinsen bewegte sich zwischen einem Viertel und der Hälfte. Bei drei Viertel der Höfe änderte sich folglich nichts oder kaum etwas, ein Viertel musste doch spürbar höhere Lasten tragen. David Sabean untersuchte sieben Weißenauer Lehenhöfe zwischen 1497 und 1542, u. a. in Oberzell, und kam zu dem Ergebnis, „dass die Abgaben in diesem Zeitraum von dem Kloster offenbar nicht entscheidend erhöht wurden.“ Bei einem Hof des Klosters Weingarten in Bavendorf blieben die Abgaben zwischen 1513 und 1531 gleich. Auch bei den Lehenhöfen des Klosters Weingarten stellt Sabean generell fest, „dass das Kloster vor dem Bauernkrieg die Zinsen entweder überhaupt nicht erhöhte oder nur für solche Höfe, deren Abgaben unter dem Wert anderer Höfe lag.79Auch wenn die messbaren Veränderungen nur wenige betrafen, wurde der Weißenauer Abt von 1495-1523, Johannes Mayer, wenig geschätzt. Der Klosterchronist charakterisiert ihn als „streng und hart seinen Mitbrüdern und den ihm untertanen Eigenleuten gegenüber“.80 Allein dass er begann, die Rechtsakte durchgängig schriftlich zu dokumentieren, um die Klosterrechte zu sichern, schuf offensichtlich Unruhe.
Obwohl bei Falllehen der Tod eines Lehennehmers den Grundherren Gelegenheit gegeben hätte, die Abgaben zu erhöhen, nutzten die Grundherren dies wenig und wenn, dann oft, um die Abgabenlast einander anzugleichen. Die vielfachen Verträge der Herrschaften mit ihren Leibeigenen reduzierten zwar die Vermögensverluste im Erbfall, beschränkten aber gleichzeitig die Freizügigkeit. Der Vertrag des Klosters Weißenau von 1448 brachte gleichzeitig Verbesserungen und Verschlechterungen. Das Verbot der Heiraten mit fremden Leibeigenen und die Koppelung von Grund- und Leibherrschaft zwang zu häufigen Freikäufen und anschließenden neuen Ergebungen mit jeweils entsprechenden Gebühren.
Gestiegen ist ganz sicherlich die Steuerbelastung aufgrund der Kriege des Schwäbischen Bundes, Österreichs und des Reichs. Steuern für Reichskriege wurden seit 1488 sporadisch, ab 1516 jährlich erhoben. Dafür waren aber die regionalen Herrschaften nicht verantwortlich, die die Steuern nur einzogen und weiterleiteten.81
Mancher Bauer mag auch in Bedrängnis durch die vielen Mißernten wegen schlechter Witterung ab 1500 gekommen sein. Am 7. Juli 1524 vernichtete ein schwerer Hagelschlag die Ernte auf den Feldern im Klostergebiet von Weißenau weitgehend, in einzelnen Orten wie Oberzell völlig. Der Abt musste für Kloster und Untertanen Hafer und Korn kaufen, um den Winter zu überstehen. Einzelne Gemeinden unterstützte er mit Geldzahlungen, wofür er Kredite aufnehmen musste, Taldorf erhielt 50 Gulden.82
Hinsichtlich der gemeindlichen Selbstverwaltung, der Teilhabe an Lokalverwaltung und Rechtsprechung sind aus dem Taldorfer Umfeld keine Verschlechterungen bekannt. Ganz anders sah das etwa in der Grafschaft Tettnang aus, dort hatten die Grafen von Montfort die Dorfgerichte aufgelöst und ließen ihren Amann Recht sprechen. 83 Im Taldorfer Umfeld kommt es dagegen sogar zu einer Ausweitung bäuerlicher Interessenvertretung auf territorialer Ebene, zunächst im 15. Jahrhundert der Weißenauer Leibeigenen, im 16. Jahrhundert durch die Bildung der „Landschaft“ der Untertanen der Landvogtei.
Die Bevölkerungszahl stieg in den Jahrzehnten vor dem Bauernkrieg deutlich.84 Aber wegen der Unteilbarkeit der Lehenhöfe konnte die Zahl der Güter kaum vermehrt werden. Dass viele nachgeborene Kinder keine eigene auskömmliche Existenz gründen konnten, führte zu sozialen Spannungen in den Dörfern. Ulrich Schnider in Bavendorf wusste sich offenbar nicht anders zu helfen, als ohne Bewilligung der Stadt Ravensburg und der Gemeinde ein Häuschen auf Gemeindeland zu erstellen. Er wurde in Gefangenschaft gesetzt und gezwungen, den Bau wieder abzubrechen. Mit diesen Spannungen mag zusammen hängen, dass 1524 die „Dorfpfleger“ in Bavendorf mehrfach bedroht und geschmäht wurden.85
Sicherlich hatte man auch in und um Taldorf von den Predigern gehört, die Papst, Kirche und ihre Lehren in Frage stellten. In Konstanz und Memmingen konnte man ab 1519, in Lindau ab 1523 Predigten im reformatorischen Sinne hören, aber das war doch ziemlich entfernt. In Ravensburg blieb die Reformation noch etliche Jahre bloßer Gesprächsstoff gebildeter Bürger86 Zum Entsetzen des Abtes zeigte in Weißenau 1522 ein frisch zum Priester geweihter Chorherr reformatorische Neigungen, las die Schriften Erasmus‘ von Rotterdam und Martin Luthers und predigte in der Klosterkirche „wider die Römischen“, also gegen die bisherige Lehre der Kirche. Rasch untersagte ihm der Abt die weitere Predigt, worauf der Chorherr Kloster und Orden verließ und den Reformator Zwingli in Zürich aufsuchte.87 Auch wenn es sich um wenige Predigten gehandelt haben dürfte, könnte sich das herumgesprochen haben und Zweifel genährt haben.
Soweit die objektivierbaren Veränderungen, wie aber begründeten die Weißenauer Untertanen selbst ihre Empörung? Nach Meinung des Weißenauer Abtes hatten seine Untertanen keinerlei Grund zum Aufstand. Sie selbst hätten ihm bestätigt, dass der Abt „ihnen niemals Böses, sondern vielmehr alles Wohlwollen und unendlich Gutes nicht nur mit Worten gezeigt, sondern auch durch Taten erwiesen hätte.“ Sie hätten keine Klagen gegen den Abt, aber gegen den Landvogt, die der Abt aber nicht spezifiziert. Glaubt man dem Abt, so erhoben sich seine Eigenleute nicht wegen eigener Beschwerden, sondern weil sie von den bereits aufständischen Bauern in der Nachbarschaft zum Anschluss gedrängt wurden. In dieser Situation fragten sie den Abt um Rat, wie sie sich verhalten sollten. Er beschwor sie, ihm treu zu bleiben, und erhielt ihre Zusage. „Aber ihr Sinn stand zu den Bauern. Sie meinten, sie wollten die Sache durchsetzen gegen die Herren. Ihrer seien mehr als die Herren. Sie wollten die Güter als Eigentum behalten.“88 Hatten sie auch keine spezifischen Beschwerden, so wollten die Weißenauer Eigenleute doch am möglichen Erfolg der Bauern teilhaben. Vor allem die Aufhebung des Lehenssystem und das volle Eigentum ihrer Höfe lag ihnen am Herzen, was das Kloster als ihren Grundherrn ruiniert hätte. Von der Leibeigenschaft, die sonst überall als entwürdigend empfunden wurde, war keine Rede. Später forderten die Weißenauer Aufständischen vom Abt, die Pfarrer sollten „das lautere, klare Evangelium predigen mit keinem Zusatz oder Laienpfaffen auf die Pfarreien setzen.“ Das stellte die traditionelle Kirchenhierarchie mit ihren Lehren in Frage, von den gegebenen Verhältnissen hätte nur noch Bestand gehabt, was sich aus dem Wortlaut der Bibel hätte rechtfertigen lassen. Das Schlagwort dafür war das „göttliche Recht“, auf dem die Weißenauer Bauern noch nach dem Weingartner Vertrag beharrten.89
Die Stoßrichtung, die die bisherige Feudalordnung in Frage stellte, wird deutlicher in den Briefen, die der Rappertsweiler Haufen Ende Februar und im März 1525 an Nachbargemeinden und –herrschaften schickte. Es möge „das klare Evangelium und das uns gepredigt werden …, was wir nach dem göttlichen Recht unseren Oberen schuldig sind“. 90 Da die Kirche nur „mumentrom“ und „menschentant“ verkündet habe, „schirmen“ nun die Bauern selbst „das Gotteswort und heilige Evangelium“ und „handhaben göttliche Gerechtigkeit“.91 Der Rappertsweiler Haufen, dem sich zumindest ein Großteil der Untertanen des Klosters Weißenau und der Landvogtei angeschlossen hatte, formulierte Mitte März 1525 seine Ziele in eigenen, eben den „Rappertsweiler Artikeln“92, die er wenig später einer Delegation des Schwäbischen Bundes übergab. In diesen Artikeln, die in einzelnen Punkten von den gesamtoberschwäbischen „Zwölf Artikeln“ abwichen, konkretisierte dieser Haufen sein Verständnis des „göttlichen Rechts“ in Anwendung auf die konkrete Situation in seinem Oganisationsbereich:
Im ersten Kapitel wurde das reformatorische Schriftprinzip verankert, auf das die Priester festgelegt wurden. Die Bibel als Grundlage des göttlichen Rechts sollte als kritischer Maßstab und als Legitimationsbasis für die ganze Bewegung festgeschrieben werden.
Die „Kirchenartikel“ 1 und 2 schalteten die kirchliche Hierarchie aus und unterstellten durch die Pfarrerwahl die Geistlichen der Personalhoheit der Gemeinden.
Der „Basisartikel“ 3 forderte die Abschaffung von Leibeigenschaft und Frondiensten und bedrohte damit eine wichtige Rechtsgrundlage feudaler Herrschaft.
Die „Selbstverwaltungsartikel“ 4 und 6 verlangten die Wahl der Amänner durch die Gemeinde und beschränkten die Amtszeiten auf drei Jahre. Die Bindung der Richter allein an ihr Gewissen befreite sie von obrigkeitlichen Vorschriften.
Die „Rechtsschutzartikel“ 7, 8, 10 und 11 sollten die Rechtssicherheit und den Schutz vor missbräuchlicher Rechtsausübung sowie die Unentgeltlichkeit von Akten der Gerichtsbarkeit sichern. Gefängnishaft und Folter durften nur mit Zustimmung des gewählten Gerichts verhängt werden.
Nach dem „Wirtschaftsartikel“ 9 sollten die Naturalabgaben in Geldzinse von maximal 5 % umgewandelt werden, die Zinsen sollten abgelöst werden können und die Zahlungsempfänger mussten ihre Berechtigung urkundlich nachweisen.
Allerdings werden nur die Artikel 1-3 und 5 (Kirchen-, Basisartikel, Jagd- und Fischrecht) explizit mit dem göttlichen Recht gerechtfertigt, alle anderen Forderungen sind implizit im aus dem göttlichen Recht abgeleiteten Naturrecht begründet.
Das war ein revolutionäres Programm, auch wenn die Bauern betonten, sie wollten Herrschaft nicht grundsätzlich in Frage stellen. Wenn die Gemeinde die Pfarrer wählte, konnte das Eigeninteresse von Kirche als Legitimationsinstanz von Herrschaft ausgeschaltet werden. Pfarrerwahl und Selbstverwaltungsartikel stärkten die Rechte der Gemeinde. Die Aufhebung der Leibeigenschaft ermöglichte Freizügigkeit und beendete die Konkurrenz von Leibherrschaft und Niedergerichtsherrschaft. Der Wirtschaftsartikel stärkte die Marktbeziehungen der Landwirtschaft und reduzierte die Abgaben drastisch. Was die Stärkung des „Kommunalismus“ vom „Feudalismus“ noch übrig gelassen hätte, klammerten die Rappertsweiler Artikel aus. Grundzüge einer neuen politischen Ordnung skizzierte das oberschwäbische Bauernparlament in Memmingen in Bundes- und Landesordnung.
In die Rappertsweiler Artikel, bei denen wohl der reformatorisch gesonnene Pfarrer von Esseratsweiler als Schreiber der Bauern die Feder führte, flossen die Interessen der Bauern eines größeren Raumes zwischen Schussen und Vorarlberg ein. Die Forderungen trafen nicht durchweg die Vorstellungen der Bauern in und um Taldorf. In diesem Gebiet konnten die Bauern noch eine weitgehende Selbstverwaltung und eigene Rechtsprechung praktizieren. Die Rechtsicherheit mag im östlichen Bereich des Rappertsweiler Haufens geringer gewesen sein, wo die Herrschaften die Rechtsprechung an sich gezogen hatten. Dagegen konnten sich die Weißenauer Bauern mit ihrem Ziel der völligen Aufhebung der Grundherrschaft nicht durchsetzen.
Es wird den Weißenauer Eigenleuten bewusst gewesen sein, dass es ihnen ökonomisch besser ging als den Salemer Lehenbauern im Westen von ihnen, sie politisch über mehr Selbstverwaltungsrechte verfügten als etwa die Untertanen der Grafen von Montfort im Osten und sie auch keine solche Gewaltakte erleiden mussten wie die Kemptener Bauern im Allgäu.93 Sie fühlten sich zwar durch ihre grundherrlichen Lasten beschwert, die aber im Durchschnitt der Zeit lagen, klagten bei ihrem Abt auch nicht wie die oberschwäbischen Bauern über die Leibeigenschaft, wohl aber über die von der Landvogtei ihnen auferlegten Steuerzahlungen. Die schlechten Ernteerträgnisse der letzten Jahre, die Bevölkerungszunahme und die sozialen Spannungen im Dorf mögen verunsichert haben. Wichtiger aber war wohl der Legitimationsverlust von Herrschaft in diesem Gebiet. Die Bauern mussten erfahren, wie die Landvogtei der Grafschaft Heiligenberg einen Landstreifen entriss und durch keinen Gerichtsentscheid daran gehindert wurde und wie eben diese Landvogtei ihrem Abt Steuer- und Gerichtsrechte absprach und sich aneignete. Herrschaft war durch Gewaltakte und als Handelsobjekt (wie das Niedergericht Bavendorf) veränder- und auswechselbar. Die Bauern hatten Erfahrung mit Verwaltung und Rechtsprechung auf lokaler Ebene, warum sollten nicht auch sie nach der Herrschaft greifen, wenn ihnen gepredigt wurde, dass ihre Rechtsgrundlage, ihre Praxis und Lasten dem Evangelium und göttlichen Recht widersprachen. Die Bauern in und um Taldorf erhoben sich nicht aus eigenem Antrieb, sie schlossen sich einer Bewegung an, die andernorts ihren Anfang nahm. Sie haben aber rasch begriffen, von welchem Nutzen ihnen das göttliche Recht als Begründung ihrer Forderungen sein konnte.
Unveröffentlicht 2015. Dieser Text war als Kapitel 1 des Beitrags: „Sie begehrten nichts denn das göttliche Recht.“ Der Bauernkrieg in Taldorf. In: Margarete Eger / Gerhard Rothenhäusler (Hg.): 1200 Jahre Taldorf. Biberach: bvd, 2016, S. 60-77, 282-285 vorgesehen. Wegen Überschneidungen mit einem anderen Beitrag entfiel er dort. Die Fortsetzung mit der Ereignisgeschichte des Bauernkriegs ist im eben genannten Aufsatz in der Ortsgeschichte Taldorf nachzulesen.