Die Lebenswelt der spätmittelalterlichen Menschen war aber nicht nur durch Herrschaft bestimmt. Der Bauer war nicht „nur ein Objekt der Geschichte“, sondern auch „Subjekt“.69 Zwar gab es nur wenig individuelle Spielräume, da die Menschen immer in dörfliche, herrschaftliche, kirchliche Gemeinschaften eingebunden waren, wohl aber konnten diese Gemeinschaften ihre Handlungsspielräume kollektiv erweitern. „Kommunalismus“ konkurrierte mit „Feudalismus“.70 Die Auflösung der Fronhofverfassung mit dem Rückzug des Grundherrn aus der Organisation der Landwirtschaft, der Beschränkung auf die Erhebung von Abgaben und der selbständigen Wirtschaft von Familienbetrieben, sowie die Durchsetzung der Dreifelder-Wirtschaft erforderte kooperatives Verhalten und gemeinsame Regelungen. Die Flur konnte nur gemeinsam eingesät, abgeerntet und beweidet werden. „Zwing und Bann“, die Regelung der Flurbewirtschaftung, lag zunächst in der Hand der örtlichen Maier. Im Zuge der Stärkung der bäuerlichen Rechte und der Schwächung der Grundherrschaften nach den Bevölkerungsverlusten durch die Pest konnte sich die dörfliche Gemeinschaft diese Regelungsgewalt aneignen. Die Gemeindeversammlungen der Hofinhaber legten die Termine für die bäuerlichen Arbeiten im Jahreslauf fest, besetzten die dörflichen Ämter wie Dorfmeister oder -pfleger und Hirten, regelten den Unterhalt der Straßen, Wege und Brücken. Direkte Zeugnisse dieser dörflichen Selbstverwaltung fehlen allerdings aus dieser Zeit im Taldorfer Umland weitgehend.
Fassen lässt sich die Bildung dieser ländlichen Gemeinden nur über ihre Streitigkeiten um „Trieb und Tratt“, d.h. über die genauen Grenzen der Weideflächen zwischen den Gemeinden. Die erste Urkunde über den Entscheid in einem solchen Weidestreit der „Hintersassen“ von Taldorf und Appenweiler stammt aus dem Jahr 1411, es folgen „Spruchbriefe“ von 1459 in einem Streit nun der Gemeinde Oberzell mit einem Gemeindeanhörigen über die Baulast an einer Brücke, von 1520 wieder über Weidestreitigkeiten zwischen den Gemeinden Taldorf und Reute, 1543 zwischen den Gemeinden Taldorf und Ellenweiler mit dem Maier zum Rosengarten und im gleichen Jahr zwischen den GemeindenTaldorf und Batzenweiler mit Lempertsweiler.71 Diese Konflikte wurden nicht in ordentlichen Gerichtsverfahren, sondern durch Schiedssprüche bzw. „gütliche Sprüche“ entschieden, auch wenn es meist die zuständigen Gerichte waren wie 1459 das Weißenauer Klostergericht, 1520 der Vogt zu Schmalegg und 1543 der Amann des Landvogteigerichts um Ailingen. „Dorfpfleger“, die die Kasse führten und die gemeinsamen Unterhaltsarbeiten anleiteten, werden erst 1524 für Bavendorf genannt.72 „Gemeindeland“, also eine Allmendefläche im gemeinsamen Besitz der Gemeinde, wird in Bavendorf 1520 erwähnt.73 Selbstverwaltungsorgane, in diesem Fall der Pfarrgenossen, waren auch die oben genannten Heiligenpfleger zur Verwaltung der Kirchenbaufonds.
Für die Rechtsprechung und Verwaltung im lokalen Bereich waren die Herrschaften auf die Mitwirkung ihrer Untertanen angewiesen. Die Amänner des Klosters Weißenau in Wernsreute und der Landvogtei in und um Ailingen waren wohlhabende Lehensbauern in den jeweiligen Herrschaftsgebieten. Im Gericht des Klosters Weißenau in Taldorf ebenso wie im Gericht der Reichsstadt Ravensburg in Taldorf, im Gericht der Landvogtei in und um Ailingen, im auch Adelsreute betreffenden „Sidelgericht“, dem Niedergericht der Abtei Salem sprachen Bauern Recht über ihres gleichen.74 Der Herrschaft kam die Kenntnis der konkreten Verhältnisse vor Ort zugute, und die Delegation von lokalen Herrschaftsrechten band die Untertanen besser ein. Die Bauern als Herrschaftsorgane und Richter garantierten, dass nicht primär Herrschaftsinteressen, sondern bäuerliches Rechtsempfinden Verwaltung und Rechtsprechung bestimmte. Wir wissen allerdings nicht, ob diese lokalen Organe ihre Ämter durch Wahlen ihrer Standesgenossen oder durch herrschaftliche Einsetzung erhielten.
Wenn die „Bauernschaft all gemeinlich jung und alt, die dem ehrwürdigen Gotteshaus und Kloster zu der Minderen Au [Weißenau] mit Eigenschaft zugehört“ 1448 mit dem Kloster einen Vertrag über die Regelung des Todfalles der Leibeigenen schloss,75 dann müssen diese Eigenleute vorher zusammen gekommen sein, sich beraten und Vertreter für die Verhandlungen mit Abt und Konvent gewählt haben. Die Eigenleute des Klosters formierten sich zu einem handlungsfähigen Kollektiv, einer Vorform der späteren „Landschaft“, der Untertanenkorporation des Klosters. Die konkrete Herrschaftsform auf dem Weg zum Klein(st)staat konnte nicht einseitig von der Herrschaft ausgestaltet werden, sondern wurde mit den Untertanenvertretern „ausgehandelt“ und in Herrschaftsverträgen fixiert.76
Konkurrierend zu dieser autonomen Bildung einer Interessenvertretung der Weißenauer Leibeigenen „von unten“ versuchte der Landvogt unter Berufung auf sein Steuerrecht die Untertanen der Landvogtei, soweit er über die volle Landeshoheit verfügte, „von oben“ zu einer „Landschaft“ zusammen zu fassen. Die Äbte als Leibherren beanspruchten das Steuerrecht als Rechtsfolge der Leibeigenschaft, wogegen der Landvogt die Steuer und Reispflicht (Pflicht zur Landesverteidigung) ab 1489 als Niedergerichtsherr für sich reklamierte. Gegen die Macht Österreichs konnten die Äbte nicht angehen. Die „Landschaft“ der Landvogtei entstand auf Kosten des Untertanenverbands des Klosters. In der späteren „Landschaft“ des Klosters konnten nur noch die Untertanen der klösterlichen Niedergerichtsgebiete, nicht mehr alle Leibeigenen, erfasst werden.
Steuererhebung für Kriegszwecke bedurfte der Zustimmung der Zahlungspflichtigen. Dazu mussten sie zu Versammlungen berufen werden und Vertreter für die Verhandlungen wählen. Steuererhebung setzte folglich die Bildung einer handlungsfähigen Untertanenkorporation auf überlokaler, auf territorialer Ebene voraus, einer „Landschaft“. 1523 nach Altdorf, 1527 nach Löwental und 1529 nach Eschach berief der Landvogt die Untertanen der Landvogtei zu Versammlungen, wo sie dem Landvogt huldigten und Steuern bewilligten77 Auch als ab 1532 die Schwäbisch-Österreichischen Landstände als Vertretung aller österreichischen Herrschaften in Oberschwaben gebildet und dort die Verhandlungen um die Steuerbewilligungen konzentriert wurden, blieben die einzelnen Landschaften, wie die der Landvogtei, erhalten. Die Landschaft der Landvogtei wählte fortan einen Delegierten zu den Landständen, legte die Steuersummen auf die einzelnen Ämter um, zog die Gelder ein und beriet über Beschwerden.
Die Bauern waren also nicht nur „Objekte“ ihrer Herrschaften. Sie regelten die Flurbewirtschaftung in ihren Siedlungen selbständig, sie verwalteten die Kirchenbaufonds, amtierten als lokale Amtsträger ihrer Herrschaften, richteten über ihres gleichen und organisierten sich überlokal als Verhandlungspartner ihrer Herrschaften.