Elmar L. Kuhn

Die Gesellschaft Oberschwaben 1945-49


Ernst Michel

Das Buch „Renovatio. Zur Zwiesprache zwischen Kirche und Welt“, erschien parallel im „Verlag der Gesellschaft Oberschwaben“ in Aulendorf und im Verlag Ernst Klett in Stuttgart in einer ersten Auflage von 5000 Stück Ende 1947, in einer zweiten kaum mehr absetzbaren Auflage von geplanten 15 000 Stück nach der Währungsreform 1948. Rieck sah in dem Buch „die Magna Charta für unsere Arbeit“ (25. 1. 1947). „Es ist meine und Aulendorfs Aufgabe, die Renovatio solange zu interpretieren, bis sie von der führenden Schicht begriffen und weitergetragen wird.“ (24. 4. 1948). Der Klappentext warb, hier handle es sich um „das Fazit eines Lebens, das wie kein anderes unserer Zeit der Frage gewidmet war, worauf es christlich ankommt“. Hier werde eine Theologie, „die wie eine unhebbare Last das Bewusstsein der Gläubigen seit einem Jahrhundert beschwert, in verbindliches Denken“ überführt.

Michel historisiert Kirche und ihre Lehre radikal. Er wendet sich gegen die „Vergöttlichung und Absolutsetzung ihrer Wirkformen und ihres Werkes“ (19), gegen die „Unterjochung der Kirche unter die Verewigung ihrer gelebten Inhalte“ (88), er erwartet „die vergangenen Wirkformen und überlieferten Gestaltprägungen der Kirche... als zeitlich begrenzte Bewahrungen ihres Lebensprinzips“ zu erkennen (92). Er anerkennt zwar die „schützende und ausrichtende Kraft“ der Dogmen und die „feste Bewahrung durch das Lehramt“ (49), lehnt aber den „Unterwerfungsanspruch der ... Dogmen“ ab und fordert, dass sie „aus dem Fixsternhimmel, an den sie die Theologie versetzt hat“, „in die jeweils zubestimmte Stunde des Heils (eingebunden werden), die dieses und jenes Dogma als Wahrheitsformel entzaubert“ (50). Er hält „ethische Weisungen autoritativer Art durch die Kirche auch christlich gerechtfertigt“ (53), wendet sich aber gegen einen „verbindlichen Kanon christlichen Handelns“, selbst gegen ein „maßgebliches Vorbild, das zur Nachahmung verpflichten könnte“ (57). Es gebe „kein christliches Sittengesetz“ als „immerdar verpflichtende Normen“ (54). Der Christ wirke „in der Situation, in der er zum Tun berufen ist, aus der schlichten Sachlichkeit heraus, auf die ihn die Situation anspricht“ (55). Er propagiert einen „christlichen“ (72) oder „positiven Relativismus“, eine „christliche“ (106) oder „heilsgeschichtliche Situationsethik“ (112) und zitiert mehrfach Augustinus: “ama, et fac quod vis“ (72 und 93), wonach Liebe den Gläubigen lehrt, was zu tun ist.

Liefert die Geschichtlichkeit den Maßstab der Kritik, so gibt die Heilsgeschichte die verpflichtenden Aufgaben vor. Das „Kommen des Reiches (ist) wohl Gottes Tat, aber an die Mitwirkung der Menschen - ... der ´Gemeinde des Herrn´ - geknüpft“ (63). Aufgabe der Kirche sei es, das Kommen des Reiches Gottes zu befördern, den „von den Mächten des Abfalls beherrschten Weltlauf zu heilen und zu erneuern, den Äon der Sünde und des Gesetzes aus den Grundkräften und Ordnungsmächten des `neuen Lebens` - kraft der Liebe - zum Reich Gottes hin hinzuleben“ und dazu die „Umgekehrten“ und „Auserwählten“ in der Gemeinde Christi zu sammeln (108). Jeder Christ sei zur Glaubensumkehr aufgefordert und habe sich dem Gericht nicht erst nach dem Tod, sondern hier und heute zu stellen: „wer nicht glaubt, ist schon gerichtet“ (101). Diese Glaubensumkehr hat er nicht nur quasi privat, sondern „als Glied des öffentlichen Lebens der Welt ... zu bewähren“ (110) und in die „Alltagsformen beispielhaften Gemeinschaftsaufbaues in berufenen Volkszellen aller Art“ zu transformieren (112). Die Erneuerung von Kirche, Volk und Volkszellen könne nur durch einzelne „Wirkende“ (22) erreicht werden, die das Schicksal der „Aussonderung“ und d.h. den Konflikt mit der Amtskirche nicht scheuen dürfen. Aber das Schicksal der Gemeinschaften hänge von ihren „Verantwortungsträgern“ ab. „Schuldig wird die Gemeinschaft in ihren Verantwortungsträgern“ (28). „Sich mit autoritativem Anspruch an der Lösung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Aufgaben“ der geschichtlichen Stunde zu beteiligen, sei nicht Sache der Amtskirche, sondern der Laien (68, vgl. 88).

Da „in der sozialistischen Bewegung ein echtes Anliegen der geschichtlichen Stunde nach Verwirklichung dränge“, gehöre der „Christ in seiner Weltverantwortung da hinein“ (65). Der Christ könne allerdings nicht „Sozialist aus Prinzip, aus Doktrin“ sein (65), denn das laufe wiederum auf eine „Vergewaltigung der lebendigen Geschichte“ (66) hinaus, doch gelte es „allen zeitbegrenzten Lebenswert der bekämpften sozialistischen Theorien anzuerkennen und heimzuholen“ (71). Der sozialistischen Bewegung wird so eine heilsgeschichtliche Sendung zugesprochen (°Michel 1947).

Die „Renovatio“ blieb die einzige „Veröffentlichung der Oberschwäbischen Akademie Aulendorf“ und des Verlags der Gesellschaft. Die geplanten weiteren Bücher, „die die großen Aspekte des geschichtlich Notwendigen eindringlich darstellen (sollten) und grundlegenden Veröffentlichungen zu einer tragenden Anthropologie und Geschichtsphilosophie, zu soziologischen und theologischen Fragen“, die „Publikationen, die der Bewusstmachung der besonderen Gegebenheiten des oberschwäbischen Landes dienen“ sollten, blieben ebenso ungedruckt wie die geplante Zeitschrift oder erschienen in anderen Verlagen (°Kuhn 2002, S. 318-320, vgl. S. 320f.).

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