Am 27. April 1946 trat die Gesellschaft Oberschwaben erstmals mit ihrer „Eröffnungstagung“ an eine breitere Öffentlichkeit. „Es waren erschienen u.a. Erzabt Baur aus Beuron, Abt Konrad Winter aus Weingarten, zahlreiche Mitglieder der Landesdirektion Tübingen, Vertreter des Militaire Gouvernement, die Landräte der oberschwäbischen Kreise bzw. deren Vertreter, die Bürgermeister von Ravensburg und Weingarten, zahlreiche Vertreter geistiger Berufe, der Wirtschaft, der politischen Parteien, der Gewerkschaften, der Landwirtschaft und des oberschwäbischen Adels.“ (°Schwäbische Zeitung 30.4.1946) Der Sekretär der Gesellschaft, Baron Schenk von Stauffenberg, referierte zunächst über Entstehung, Ziele und Organisation der Gesellschaft. Anschließend umriss Josef Rieck die Aufgabe der Akademie: In diesem „Sammelplatz der lebendigen Kräfte des heutigen Denkens ... sind bestimmte Grundeinsichten für die verschiedensten Lebensgebiete zu finden, und durch ihre Vermittlung an die dafür Aufnahmefähigen bildet sich mit der Zeit eine geistig homogene Elite. ... Es geht um die Bildung einer neuen Schicht von Verantwortungsträgern, die einmal befähigt sind, aus einem Gesamtgeist heraus auf den Ablauf der Ereignisse einzuwirken.“ (°Messerschmid 1946, S. 14) Er bezog sich auf zwei historische Beispiel für das „Maß des Geforderten“, Augustinus und wiederum Benedikt, und als zeitgenössische Anreger aus dem französischen Geistesleben auf Jacques Maritain und auf Emmanuel Mounier (*Berger 2002, S. 102. * Köpcke-Duttler 1990) als Erneuerer des Christentums und soziale Humanisten, aber auch auf die wichtigsten Vertreter des Existenzialismus, Camus und Sartre.
Die eigentlichen Festvorträge hielten Staatsrat Prof. Dr. Karl (Carlo) Schmid, damals Vorsitzender des Staatssekretariats von Württemberg-Hohenzollern (°Schmid 1979. *Ferdinand 1994. °Raberg 2004, S. XCVff. *Weber 1996) und der Rektor der Universität Tübingen, der Theologe Prof. Dr. Theodor Steinbüchel (*Lienkamp 2002). Karl Schmid pries den „Engel der Humanität“ als den Genius Oberschwabens und rückte damit wieder dieses Reizwort in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, auf die noch einzugehen sein wird (°Schmid 1946). Theodor Steinbüchel, geboren 1888 in Köln, ab 1913 Kaplan im Erzbistum Köln, wie Michel Mitarbeiter an der „Rhein-Mainischen-Volkszeitung“ und seither mit ihm befreundet, 1926-1935 Philosophieprofessor in Gießen, 1935-1938 Ordinarius für Moraltheologie in München und seit 1941 Moraltheologe in Tübingen, 1946-1948 auch Rektor der Tübinger Universität, bezeichnete in seiner Rede „Mangel an echten Eigenwerten, Mangel an menschlicher Echtheit, Mangel an Transzendenz“ als die Gründe für die „Krisis des heutigen Menschen“. Mehr als Schmid musste Steinbüchel seine Hörer verstören, wenn er die „Betonung der Humanität“ als „Sinn der sozialistischen Idee“ bezeichnete und die sozialistische „Gesellschafts- und Wirtschaftsform“ als Voraussetzung für ein „Transzendieren zu dem persönlich gottreligiösen Glauben hin“ betrachtete (°Steinbüchel 1946, S. 43f.). Gemeinwirtschaftliche, sozialistische Ideen wurden damals zwar noch in allen Parteien diskutiert, fanden aber sicher bei oberschwäbischen Honoratioren keinen Anklang.
Fünf weitere Tagungen waren im Jahr 1946 Verfassungsfragen gewidmet, obwohl der im Kuratorium stets präsente und aktive Tettnanger Regierungsrat Walter Münch vor einer Befassung mit der Politik warnte, zu der die Gesellschaft auch von der Landes- und Militärregierung gar nicht ermächtigt sei. Aber der Tübinger Regierungschef Karl (Carlo) Schmid, der einen Entwurf für die Landesverfassung von Württemberg-Baden ausgearbeitet hatte, suchte in Oberschwaben eine Plattform, um für seinen Entwurf zu werben. Er hätte es am liebsten gesehen, wenn Württemberg-Hohenzollern die Verfassung von Württemberg-Baden übernommen hätte, um die spätere Vereinigung zu erleichtern, „wenn die Zonengrenzen fallen werden“ (29. 6. 1946). Baron Schenk von Stauffenberg relativierte in seiner Einführung die Erwartungen und Befürchtungen. Es ginge nur darum, „sich aus konkretem Anlaß mit staatsrechtlichen und staatsphilosophischen Erwägungen, die jeder Verfassung zugrunde zu legen seien, auseinanderzusetzen.“ (29. 6. 1946) Eingehender behandelt wurden auf diesen Tagungen, zu denen sich u.a. Stuttgarter und Tübinger Minister, Geistliche, Gewerkschafts- und Parteiführer einfanden, die Grundrechte, konkrete Fragen des Staatsaufbaus, die Eigentumsfrage, Bildung und Erziehung sowie das Verhältnis von Kirche und Staat. Als strittig erwies sich die Frage, ob ein säkularer Staat oder ein „christlicher Staat“ anzustreben sei, ob er „durch Dogma oder Glauben legitimiert“ werden solle oder „eine klare Diesseits-Verfassung das Richtige sei“ (29. 6. u. 10. 8. 1946).
Drei Tagungen befassten sich mit konkreten Zeitproblemen. Von einer Aussprache katholischer Geistlicher am 25. Juli haben sich leider keinerlei Berichte erhalten. Am 20. August trafen sich Bürgermeister und Landräte. Bürgermeister Braun von Weingarten erörterte die Frage, wie das Bürgerrecht an „Bewährung durch Mitarbeit“ gebunden werden könnte, um vorschnelle Fürsorgeansprüche abzuwehren und „Bürgerstolz“ zu wecken (20. 8. 1946). Der in Biberach 1882 geborene Architekt Hugo Häring (*Jones 1999. *Moser/Braungardt 2002. *Schirren 2001) , bis 1942 Leiter der privaten Kunstschule „Kunst und Werk“ in Berlin, und seit 1945 Leiter der Planungskommission für Württemberg-Hohenzollern, trug Visionen zum „werkraum oberschwaben“ vor, in der er „eine geistige kapitale ... als eine werksiedlung geistiger arbeiter“ propagierte, vordringlich aber „ein außerordentliches siedlungsprogramm ... zur aufnahme der ostvertriebenen forderte“ (°Häring 1961, S. 14, 16). Auf einer Tagung der Architekten und Städteplaner am 26. und 27. September wurde Häring grundsätzlicher und warb für sein Verständnis des „Neuen Bauens“, des organhaften, von geistigen Ideen geleiteten individuellen Gestaltens in Abgrenzung von der schematischen Geometrie des Bauhauses (°Häring 1947). Bei dieser Tagung wurde auch die Herausgabe einer neuen Zeitschrift „Das neue Bauen“ beschlossen, die die Gesellschaft Oberschwaben verlegen wollte. Sie plante sogar, „Aulendorf durch die Herausgabe einer städtebaulichen Zeitschrift zum Mittelpunkt der Bestrebungen zeitgemäßer Baukunst zu machen“ (20. 9. 1947). Da die Militärregierung die Erteilung der Lizenz verzögerte, wurde daraus genauso nichts, wie aus einem Entwurf Härings, Riecks Wunschbild eines „Weltklosters“ in Architektur umzusetzen (*Schirren 2001, S. 246).
Die fachlichen Fragen, die auf der „Tagung der südwestdeutschen Archivare“ am 19. und 20. Oktober 1946 in Aulendorf erörtert wurden, scheinen weit von den damaligen Alltagssorgen entfernt zu sein. Der Waldburg-Zeiler Hausarchivar Rudolf Rauh maß den Archiven als Zentren regionalgeschichtlicher Forschung allerdings auch eine wichtige politische Funktion zu: „Heute, wo nach dem Zerfall von Ideologien der Vergangenheit wir uns auf die natürlichen Formen zurückbesinnen müssen, sollte demgegenüber der organisch gewachsenen Landschaft das werden, was ihr gebührt. ... Aus ihr muss sich das geistige und kulturelle Leben unseres Volkes regenerieren.“ (Prot. 19./20. 10. 1946). Folglich sollten die für die oberschwäbische Geschichte wichtigen Stuttgarter Bestände in einem neu zu errichtenden Regionalarchiv in Ravensburg oder Aulendorf der Landschaft „zurückgegeben“ werden.
Das implizierte eine staatliche Neuorganisation nach „natürlichen“ oder historischen Landschaften. Die Archivare beschlossen auch auf Initiative von Rudolf Rauh und des Konstanzer Stadtarchivars Otto Feger die Herausgabe einer „Zeitschrift für Schwäbische Geschichte“. Feger hatte kurz zuvor in hoher Auflage sein Buch „Schwäbisch-Alemannische Demokratie“ veröffentlicht, in dem er für eine weitgehende Autonomie Südwestdeutschlands warb (*Maurer 1982. *Klöckler 2002, Archivtage).
Die Bilanz des ersten Jahres fiel sehr unterschiedlich aus. Die Differenzen über Weg und Ziel der Gesellschaft, die schon die Gründung belastet hatten, brachen nun offen aus. Am 7. Januar 1947 schrieb Fürst Erich von Waldburg-Zeil Josef Rieck einen „Oppositionsbrief“. Die von der Gesellschaft in einer Broschüre gedruckten und versandten Festreden der Gründungsversammlung hätten ihn in „ehrlichen Schrecken“ versetzt. Die Rede Professor Steinbüchels sei die „eines verschämt katzbuckelnden Katholiken“ gewesen und Karl (Carlo) Schmid hätte eine „Umdeutung echter oberschwäbischer Lebenswerte in liberalistisch bis sozialistischem Sinne“ vorgetragen. Auf den Verfassungstagungen sei es zu keiner ehrlichen Aussprache gekommen. Von den anderen Tagungen sei wenig nach außen gedrungen. „Der Ruf der Gesellschaft (sei) zum mindesten in katholischen Kreisen gegenwärtig ein äußerst schlechter ... Die Gesellschaft steckt ... in einer ernsten Krise. Entweder das liberale Gewäsch hört jetzt auf oder die Gesellschaft Oberschwaben hat in kurzem keinen Resonanzboden mehr.“ (7. 1. 1947). Josef Rieck glaubte, den Fürsten mit der Nachricht beruhigen zu können, dass Professor Schmid „das Interesse an der Gesellschaft Oberschwaben verloren (habe), da es ihn sehr enttäuscht habe, dass Rieck völlig im Fahrwasser Rottenburgs und der CDU segle.“ Die Ankündigung, die Gesellschaft werde demnächst „eine Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie, aus der heraus wir als katholische Christen in die heutigen Nöte hinein helfend zu handeln vermögen“, publizieren, wird die Meinungen beider Seiten nicht geändert haben, zumal Rieck Auseinandersetzungen darüber schon voraussah (10. 1. 1947). Die Gesellschaft drohte sich in Oberschwaben zwischen alle Stühle zu setzen.