Aufgabe der Ordensmitglieder ist nach den Beschlüssen des 2. Vatikanischen Konzils, durch die Befolgung der evangelischen Räte Christus in größerer Freiheit nachzufolgen und ihn ausdrücklicher nachzuahmen, wodurch desto reicher [...] das Leben der Kirche [wird] und desto fruchtbarer ihr Apostolat. Je nach Gründungscharisma sollen die einzelnen Orden ihren Mitgliedern zu größerer Beständigkeit in der Lebensweise, zu einer erprobten Lehre über das Streben nach Vollkommenheit, zu einer brüderlichen Gemeinschaft im Kriegsdienst Christi und zu einer durch den Gehorsam gefestigten Freiheit verhelfen. Die kirchliche Hierarchie [...] wacht mit ihrer Autorität schützend über die zum Aufbau des Leibes Christi allenthalben errichteten Institute.17 In der mittelalterlichen, aber bis ins 20. Jahrhundert nachwirkenden ‘Theologie der zwei Stände’ werden zweierlei Lebensformen innerhalb der Kirche unterschieden: Durch die eine wird die Unzulänglichkeit der Schwachen in Schranken gehalten; die andere führt zur Vollkommenheit eines seligen Lebens der Starken. [...] Die erste löscht ihre Sünden mit Tränen und Almosen, die zweite erwirbt sich ewige Verdienste mit ihrem glühenden Gebet, das sie Tag für Tag spricht.18 Als ‘Institute der Vervollkommnung’, die „Christus noch ‘enger’ nachfolgen und ihn nachahmen”19 zählt Max Weber sie zur „Heilsaristokratie” und als „religiöse Virtuosen” zum „besonderen ‘religiösen ‘Stand’ innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen”.20
Als wichtigstes normatives ‘Leitprogramm’, das Funktion und Ziele festlegt, gibt sich ein Orden eine Ordensregel oder übernimmt eine der überlieferten Regeln. Den Paulinern wurde 1308 die Übernahme der Regel des hl. Augustinus gestattet. Nach Kap. 1 dieser Regel soll vor allen Dingen […] Gott geliebt werden, sodann der Nächste.21 Ziele sind also Selbstheiligung und Seelsorge. Der Orden feierte zwar das Fest des hl. Augustinus als ordinis nostri legislatoris,22 und auf dem Titelblatt der Konstitutionen war von 1643 bis 1930 neben dem hl. Hieronymus als chronologus vitae sancti patris nostri23 auch der hl. Augustinus abgebildet.24 Aber im Text der Konstitutionen fehlt ebenso jeglicher Bezug auf die Augustinus-Regel25 wie in den Protokollen der Generalkapitel und den Korrespondenzen der Ordensleitung in den Acta generalia. In der Praxis des Ordens spielte die Regel offensichtlich keine, auch nicht den Einzelfall legitimierende Rolle. Wichtiger als Leitprogramm waren die 1643 von der Kurie erlassenen und 1725 neu redigierten Konstitutionen, die auch die hierarchischen Strukturen und Aufnahmebedingungen regelten. Im ersten Kapitel formulierten sie wiederum nur allgemein, sachlich Augustinus entsprechend, religiosorum profectui consentaneum, ac proximorum utiliati accomodatum als Ordensziel.26 In seiner vielfachen Selbstbezeichnung als ordo eremi-coenobiticorum fratrum eremitarum27 und seiner schließlichen kurialen Anerkennung als Mönchsorden28 wird kontemplativ-monastischer Binnenorientierung der Vorrang eingeräumt. So lehnen die Konstitutionen auch die Übernahme ordentlicher Pfarrseelsorge ab: in posterum nostri religiosi parochias […] non suscipiant.29 Dieser Prioritätensetzung fügten sich die schwäbischen Pauliner nicht. Alle im 17. und 18. Jahrhundert verbliebenen fünf Klöster nahmen, z. T. schon dem Stifterwillen gemäß, externe ordentliche Seelsorgeaufgaben wahr, Langnau, Bonndorf und Grünwald betreuten Pfarreien, Rohrhalden und Tannheim Filialkirchen. In den anderen Provinzen mag die außerordentliche Seelsorge an vielbesuchten Wallfahrtsorten ebenso mit der Verpflichtung zu kontemplativen Leben konkurriert zu haben.30
Die Spiritualität des Ordens, seine Zielbestimmung, wurde in Regel und Konstitutionen nur vage und widersprüchlich zur Praxis bestimmt. Stattdessen befassten sich die Konstitutionen fasst ausschließlich mit den Strukturen und Prozeduren der Ordensorganisation mit detaillierten Beschreibungen der formalen Rollenerwartungen an Mönche und Amtsträger, der Aufgaben und Verfahrensweisen der Gremien auf den verschiedenen Ebenen, der Kontrollen und Sanktionen. Damit drohte der gegenüber den spirituellen Zielen genauer definierte und leichter zu kontrollierende Erhalt eines einheitlichen Organisationsgefüges zum mindest gleichrangigen Systemziel der Ordensleitung aufzurücken. Der Generalprior solle maximam autem curam habeat de unione animorum servanda in ordine, ut omnes fratres omnium provinciarum […] unius matris essent filii.31
Normative Integration durch Regelkonformität setzt Kenntnis voraus. Aber nach der Annahme der neue Konstitutionen von 1643 dauerte es noch Jahrzehnte, bis sie den schwäbischen Konventen zugingen. Noch 1660 verfügen die schwäbischen Pauliner über keine gedruckten Exemplare. Fast bei jedem Generalkapitel in den ersten Jahrzehnten nach dem 30jährigen Krieg erbaten sie Antworten auf Zweifelsfragen und Kopien der päpstlichen Privilegien für den Orden. 1669 wussten sie nicht, an welche Offiziumstexte sie sich halten sollten, an das ordenseigene Brevier oder das an seiner Stelle bereits 1600 eingeführte römischen Brevier.32