Normverstöße sind in den Quellen immer wesentlich besser und breiter dokumentiert als normgerechtes Handeln. Die Quellen geben folglich nur ein verzerrtes Bild der Realität wieder. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass die Integration der schwäbischen Provinz in den Ordensverband der Pauliner immer wieder gefährdet war. Die durch die Gehorsamsgelübde134 eigentlich verbürgte normative Integration erwies sich offensichtlich als zu schwach. Verbindende persönliche Kontakte blieben selten. In utilitaristischen Abwägungen wurde eine zumindest relative Autonomie angestrebt. Wirksame koerzive Sanktionen wagte die Ordensleitung nicht einzusetzen, da sie befürchten musste, dadurch erst recht die Trennungsbestrebungen zu stärken. Erfolg und Misserfolg der Integration verdankten Orden und Provinz ordensexterner Autorität. Die dem Nuntius delegierte päpstliche Autorität gewährte 1732 der Provinz eine ihrer landschaftlichen Umwelt angepasste Teilautonomie, die päpstliche Autorität der Kurie erhielt 1760 die Einheit des Ordens.
Zwar hatte die Ordensleitung schon im 17. Jahrhundert mehrfach Abweichungen der schwäbischen Provinz von den Ordensstatuten moniert, hatte sie aber stets toleriert. Erst als ab 1718 die Ordensleitung nach der ersten Generalvisitation eines Generalpriors die Provinz mit größerem Druck zur uniformitas zurückführen wollte, begannen die Konflikte. Gerade die Bemühungen der Ordensleitung um größere Integration förderten die Bestrebungen der Provinz nach Desintegration. Die bisher zugestandenen, seit langem praktizierten Eigengebräuche beizubehalten, schien der Provinz nur noch über den Weg der Lösung vom Orden möglich. Dies umso mehr, als selbst nach der rechtlichen Absicherung der Eigengebräuche durch den Luzerner Nuntius die Ordensleitung dieses Indult nicht akzeptieren wollte. Ein ganzes Bündel von Motivationen mag die Provinz in ihrer Haltung bestärkt haben: bloße laxitas, die wiederholten Kosten-Nutzen-Abwägungen, das Gefühl mangelnder Achtung durch die Ordensleitung, das Beispiel der Orden und Klöster im landschaftlichen Umfeld. Verortet in der schwäbischen Klosterlandschaft dürfte das selbstverschuldete, als gering wahrgenommene Prestige der Provinz im Ordensverband die stärkere Orientierung an der regionalen Umwelt und ihren Prestigemustern als an den Normen des Ordens verstärkt haben.135 Der gustus placendi hominibus und der Wunsch, secundum morem patriae leben zu wollen, wurde besonders bei den Differenzen über das äußere Erscheinungsbild der schwäbischen Patres als Argument angeführt.136
Die Generalprioren des Paulinerordens teilten im 18. Jahrhundert noch die Meinung von Hugo von Fosse, im 12. Jahrhundert Generalabt der Prämonstratenser, die ebenso wie die Pauliner nach der Ordensregel des hl. Augustinus lebten: Weil uns aus der Vorschrift der Regel befohlen wird, ein Herz und eine Seele in Gott zu haben, ist es recht, dass – da wir unter einer Regel und dem Gelübde einer Profess leben – wir gleichförmig in der Beachtung des religiösen Lebens gefunden werden, weil nämlich die Einheit, die innerlich in den Herzen zu bewahren ist, getragen und veranschaulicht wird durch die Gleichförmigkeit in den äußeren Gewohnheiten. „Geistliche unitas [wurde] in die Forderung nach strikter uniformitas umgemünzt.“137 Die Frage ist, ob die Eigengebräuche der schwäbischen Provinz die normative Substanz des Ordens gefährdeten. Schon der Luzerner Nuntius meinte, dass die Abweichungen doch eher von geringerem Gewicht seien und stimmte der Provinz zu, dass pro diversitate provinciarum in singulis ordinibus, maxime in diversa regna, et regiones dispersis strikte uniformitas nicht beachtet werden könne, sondern Rücksicht auf regionale Gepflogenheiten genommen werden müsse.138 Gerade wegen des wenig ausgeprägten normativen Profils einer spezifischen Spiritualität der Pauliner mögen organisatorische Fragen und äußeres Erscheinungsbild der Patres überbewertet worden sein. Eine losere Ankopplung an den Orden, eine lockere Integration wie im 17. Jahrhundert mit der Duldung sekundärer Eigengebräuche und Zugeständnisse an das Prestigebedürfnis der Provinz hätten ihre Integration in den Ordensverband stabiler gestaltet.
Als einzige Ordensprovinz haben sich die portugiesischen Pauliner tatsächlich vom Orden getrennt, schon wegen der großen Entfernung, konkret aber in Folge der Türkenkriege.139 Keinerlei Separationsgelüste regten sich in der österreichischen Provinz. Die kroatischen Konvente, die wie die österreichischen bis 1700 unmittelbar dem Generalprior unterstellt waren, erreichten 1700 bzw. 1710 die Bildung einer eigenen Provinz innerhalb des Ordensverbandes.140 Politische Pressionen und nationale Affekte begünstigten in Polen zeitweise Trennungsüberlegungen, die erst 1784 realisiert wurden, nun aber nicht mehr um sich vom Orden abzuwenden, sondern um den Orden zu retten.141 Im späten 18. Jahrhundert lieferten Kontroversen zwischen dem Generalprior, dem ungarischen Provinzialprior und dem Prior von Maria Tal dem Zeitgeist Argumente. Aber der Orden scheiterte nicht an seinen internen Konflikten. Im Zuge der Ausdifferenzierung der einzelnen Funktionssysteme der Gesellschaft und des Kontrollverlusts der Religion über die anderen Bereiche der Gesellschaft führte die Politik das vorläufige Ende des Ordens in den verschiedenen Säkularisationswellen herbei, beginnend mit den josefinischen Klosteraufhebungen.
Konflikte in Orden zwischen verschiedenen Organisationsebenen und innerhalb gleicher Ebenen waren nicht die Ausnahme, und wenn auch nicht die Regel, so doch häufig.142 Orden, insbes. die Bettelorden spalteten sich wegen Differenzen über die Interpretation ihrer normativen Grundtexte. Wie in jeder Organisation ist die ‚Organisation der Organisation’, d. h. die Ausdifferenzierung von Organisationsebenen und ihr Verhältnis zueinander, ein Dauerproblem auch von Orden. Räumliche Entfernung und die Einbettung in unterschiedliche kulturelle Umwelten verschärfen das Problem. Die Orden versuchten „normgerechtes Verhalten in eindeutigen Legaldefinitionen“ zu objektivieren und durch institutionelle Regelungen zu sichern, was meist misslang.143diversitas und difformitas mussten kein Scheitern bedeuten, wenn der erste Satz der Augustinus-Regel als christliche Grundforderung beherzigt wurde: Vor allen Dingen […] soll Gott geliebt werden, sodann der Nächste.144 Bei allem Bestehen auf ihren difformitates mühten sich die schwäbischen Patres, ihren Grundpflichten nachzukommen: In choro quotidie statis horis decantatur laus Divina; per cantiones, ac cathecheses instruitur a nobis populus Christianus; confessiones poenitentium […] cum zelo, et patientia exaudimus.145
Veröffentlicht in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 100, 2008, S. 87-125.