Elmar L. Kuhn

Der schwäbische Adel im "Prozess der Zivilisation"


Theorien und Konzepte

Ovid hat die Entwicklung seiner Zeit poetisch verdichtet: „Bildung herrscht und der Ahnherrn bäurische Sitte / Nicht mehr dauert und nicht unserer Zeit sich vererbt“47. Doch die „bäurischen Sitten“ kehrten wieder. Ausführlicher hat Norbert Elias eine große Theorie des Zivilisierungsprozesses vom Mittelalter bis zu seiner Gegenwart entwickelt. Er begreift den „Prozess der Zivilisation“48 als einen Prozess der Selbstdisziplinierung mit einer zunehmenden Zügelung der Affekte, einer zunehmend rationalen Lebensführung und einer Formalisierung der gesellschaftlichen Beziehungen. Das äußert sich u.a. in einer abnehmenden Gewaltbereitschaft, einer stärker unterdrückten Sexualität, höheren Scham- und Peinlichkeitsschwellen, verfeinerten Ess- und Trinksitten, einer Rationalisierung des Handelns in Richtung eines längeren Voraus-Denkens. Die Gründe dafür sieht Elias in der fortschreitenden Differenzierung der Gesellschaft, in der die Handlungsketten, die den Einzelnen binden, immer länger, und die funktionalen Abhängigkeiten immer mehr wachsen. Ein längeres Zitat: „Durch die Interdependenz größerer Menschengruppen voneinander und durch die Aussonderung der physischen Gewalttat innerhalb ihrer stellt sich eine Gesellschaftsapparatur her, in der sich dauernd die Zwänge der Menschen aufeinander in Selbstzwänge umsetzen; diese Selbstzwänge, Funktionen der beständigen Rück- und Voraussicht, die in dem Einzelnen entsprechend seiner Verflechtung in weitreichende Handlungsketten von klein auf herangebildet werden, haben teils die Gestalt einer bewussten Selbstbeherrschung, teils die Form automatisch funktionierender Gewohnheiten; sie wirken auf eine gleichmäßigere Dämpfung, eine kontinuierliche Zurückhaltung, eine genauere Regelung der Trieb- und Affektäußerungen … hin“ und „führen zur Ausbildung einer differenzierten ‚Über-Ich’Apparatur“.49

Dabei unterscheidet Elias bis ins 19. Jahrhundert zwei verschiedene Zivilisierungs- bzw. Rationalisierungsprozesse, zum einen des Bürgertums, dessen ratio durch die Einbindung in die Arbeits- und Wirtschaftsprozesse sowie den sich festigenden Staat bedingt ist, und zum andern des Adels. Der Adel hat sich zum Statuserhalt vom Bürgertum abzugrenzen und orientiert sich an den Verhaltensformen des königlichen bzw. fürstlichen Hofes. Seine Angst vor der Minderung des gesellschaftlichen Prestiges ist hier der Motor der Umwandlung von Fremd- in Selbstzwängen. Der Adel „völlig freigesetzt für eine ständige Durcharbeitung des distinguierenden, geselligen Verhaltens, des guten Benehmens und des guten Geschmacks“ setzt diese Verhaltensweisen als „Distinktionsmittel nach unten, wie als Instrumente im Konkurrenzkampf um die Gunst des Königs“ ein. Mit seinem Aufstieg wendet das Bürgertum seinen Wertekanon gegen den Adel, „die Arbeit gegen den aristokratischen Müßiggang“ und die „‘Tugend‘ gegen die höfische ‚Frivolität‘“.50

Auf einer allgemeinen Ebene korrespondiert das Zivilisierungskonzept von Elias durchaus mit der Rationalisierungsthese von Max Weber, der das auslösende Moment aber in der „protestantischen Ethik“ sieht und sich auf bürgerliche Rationalität beschränkt.51 Noch allgemeiner konstruieren Horkheimer und Adorno den Rationalisierungs- und Zivilisierungsprozess. Nach ihrer „Dialektik der Aufklärung“ sehen sie die ganze Weltgeschichte als eine Geschichte der Durchsetzung und Radikalisierung ‚instrumenteller‘ Rationalität. Wachsende Naturbeherrschung schlägt um in Naturzwang. Ihre Selbstbehauptung erkaufen die Menschen mit Unterwerfung ihrer eigenen Natur und Triebverzicht.52

An spezifischen historiographischen Konzepten des Zivilisierungsprozesses in der Frühen Neuzeit werden die These der ‚Sozialdisziplinierung‘ von Gerhard Oestreich53 und die Konfessionalisierungsthese diskutiert. Nach Oestreich greift der vom absolutistischen Staat induzierte ‚Fundamentalvorgang‘ erstmals disziplinierend bis auf alle einzelnen Individuen durch und verändert ihr Verhalten und ihre psychischen Dispositionen, verändert aber auch die in Staat und Gesellschaft zentralen Einrichtungen. Dieser Vorgang wird als einseitige Normsetzung von oben nach unten gesehen, die Eliten können über Rück- und Folgewirkungen erfasst werden.

Wolfgang Reinhard zeichnet das Bild einer im Zuge der Gegenreformation „elitären Klerikerkirche, die unter Inanspruchnahme des brachium saeculare unermüdlich indoktriniert, propagiert, ritualisiert, reglementiert, kommandiert und kontrolliert“, wie es Peter Hersche polemisch kommentiert.54 Beide Konzepte werden mit dem Argument kritisiert, dass sie zu sehr von normativen Quellen ausgehen, aber das Vollzugsdefizit ignorieren.55

Copyright 2024 Elmar L. Kuhn