Elmar L. Kuhn

Kultur als Heimat


Heimatbedingungen

Welche Reaktionsweisen sind denkbar auf diese verschiedenen Weisen des Heimatverlusts? Möglicherweise die verbreitetste und sicherlich die erwünschteste ist in Zeiten, wo permanente Mobilität gefordert wird, gar kein Defizit mehr zu erkennen. „Was brauchen wir Heimat, wir brauchen stoßfeste Koffer!“11 „Der moderne Mensch tauscht Welt gegen Heimat ein.“ 12

Wer auf die Frage „Wieviel Heimat braucht der Mensch““ antwortet: „Er braucht viel Heimat“, weil er sonst „der Ordnungslosigkeit, Verstörung, Zerfahrenheit“ verfällt, dem sie aber von den eigenen Landsleuten genommen wird, konnte wie Jean Amery nach Auschwitz Heimweh nur durch „Heimathass“ bekämpfen.13

Golo Mann, emigriert wie sein Vater Thomas Mann, konnte „seiner Nation nie mehr völlig trauen“. Es war eine „Heimkehr in die Fremde“14

Johannes R. Becher, expressionistischer, dann klassizistischer Dichter, in den 50er Jahren Kultusminister der DDR, in den 20er Jahren oft am Bodensee, sah den Heimatverlust voraus:

„Dort am Bodensee, in Langenargen, …
Damals überfiel uns jäh ein Ahnen,
Schlimme Zeichen schienen uns zu mahnen,
Und von Meersburg schauend in die Zeiten
Sahen wir den Blutrausch künftiger Zeiten.“

Nach dem Krieg kehrte er ohne Vorbehalte zurück:

„Am Bodensee einst.
Das ist dein Garten, Deutschland…
Nun gehen wir zum ersten Mal im Freien,
Wir haben uns von Knechtschaft frei gemacht. …
Wir feiern heute unsrer Zeit Beginnen.“15

Ihm wie vielen anderen blieb die verlassene Heimat „Sehnsuchtsland“, in dem die Erinnerung an vergangenes Glück gegenwärtiges Leid kompensierte.

Viele haben aber auch an ihren neuen Wohnorten eine emotionale Beziehung zu ihrer neuen Umgebung und ihren Menschen aufgebaut, haben eine „neue Heimat“ gefunden. Das wird auch die Erfahrung von Vielen sein, auch wenn Jean Amery dem widerspricht: „Es gibt keine neue Heimat. Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland. Wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener.“16

Neue Heimat ist stärker an Personen gebunden und damit fragiler. Der Konstanzer Schriftsteller Jochen Kelter, geboren in Köln, seit den 60er Jahren am Bodensee, beklagt: „An die Stelle der verzweigten und durchlässigen Szene sind längst Grüppchen und Nischen getreten… Der soziale Organismus, der einmal existiert hat, scheint fortgeweht vom Föhn… Unser Kontinent ist voller faszinierender Orte und Gegenden und arm an Heimatorten geworden.“17

Es gibt die lateinische Sentenz: „ubi bene, ibi patria“: Wo es mir gut geht, ist meine Heimat. Das kann bescheiden aufgefasst werden: Ich kann immer und überall versuchen, mir wieder Heimat zu schaffen. Im einfachsten Fall heißt das: „ubi pecunia, ibi patria“: Wo ich Geld habe, geht’s mir gut, bin ich daheim. Es kann aber auch ernster gefragt werden, was heißt denn „bene“? Darauf hebt der berühmte, häufig zitierte Schlusssatz des Werkes „Das Prinzip Hoffnung“ des Philosophen Ernst Bloch ab: „Hat der Mensch das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“18 Kindheit lässt uns also bestenfalls ahnen, was Heimat sein könnte, die Herstellung von Heimat als wirklich menschwürdigen Lebensbedingungen steht noch aus.

Der Schriftsteller Martin Walser, geboren in Wasserburg, heute wohnhaft in Überlingen, hat das 1972 in dem Text „Heimatbedingungen“ konkretisiert, in einer Sprache, die man heute von ihm nicht mehr erwartet: „Eine entwickelte Gesellschaft muss den Staat zur Heimat für alle ausbilden. Dazu müssen alle an diesem Staat beteiligt sein, und zwar als Besitzende. Wo man nicht besitzt, hat man nichts zu sagen. Dieser Staat ist bisher nur Heimat für die Besitzer der Produktionsmittel.“ „Heimat ist ein Zeitwort, ein Prozessbegriff, denkbar nur als vergangene oder zukünftige. Wer sich mit dem jetzt Angebotenen auch für die Zukunft abfindet, hat einen zu bescheidenen Begriff von Heimat. Den hat man ihm beigebracht.“ 19

In einer Rede vor Jungbürgern in Friedrichshafen 1967, die er in einem Band mit dem Titel „Heimatkunde“ veröffentlichte, hat er ähnliche Gedanken vorgetragen und die Jugendlichen aufgefordert, sich nicht mit einer Gesellschaft abzufinden, deren Spielregeln noch „Engel zwängen, einander Ungutes zu tun“.20

Wir können verallgemeinern: Heimat mag Erinnerung und Sehnsuchtsland sein, aber sie ist keine Gegenwart. Wenn Heimat nicht nach Manfred Bosch als „unverdächtigste Vokabel, mit der verhindert wird, was der Begriff verspricht“,21 missverstanden wird, darf sie nicht als Zustand, sondern muss als Aufgabe begriffen werden.

Wer aber ernst nimmt, was der Begriff verspricht, aber eben noch nicht hält, dem wird oft Heimatliebe abgesprochen. Ihnen entgegnet Kurt Tucholsky: „Nun haben wir auf vielen Seiten Nein gesagt, … und nun wollen wir auch einmal Ja sagen… Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen … In der Heimatliebe von niemandem.“22

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