Elmar L. Kuhn

Kultur als Heimat


Kultur als Heimatbedingung

Solche Diagnosen, Heimatverlust und Kulturverlust, werden gemeinhin als hilflose sog. Kulturkritik abgewehrt. Die Phänomene sind als solche kaum zu bestreiten. Eher als eine Umkehr ist eine Verschärfung der Probleme zu erwarten. Ein Gegenszenario zu entwickeln unter Berufung auf eine Kultur, die ihren Zerfall nicht verhindern konnte, mag wenig sinnvoll erscheinen.

Würde das „officium … ad societatem tuendam“,29 die Pflicht zur Sorge um die Gesellschaft, wie sie in der antiken Philosophie angelegt ist, und z.B. Cicero sie stets betonte, als Bildungsaufgabe aufgenommen und sie einmünden in eine „reflexive Modernisierung“,30 statt der misslungenen entfesselten Modernisierung, könnte Kultur Ferment und nicht nur „Sahnehäubchen“ einer Gesellschaft sein.

Kultur ist ja immer gleichzeitig der schöne Schein, der die schlechte Wirklichkeit dekoriert, und als Glücksversprechen der Widerspruch zur Realität, der sie als schlechte enthüllt, freilich nur, wenn sie sich nicht damit begnügt, wie heute häufig, sie einfach widerzuspiegeln.31

Gewichtige Positionen heutiger Kulturtheorie sehen die Funktion von Kultur darin, in einer Zeit sich überstürzenden Wandels eine Insel privatistischer Werte zu bilden, Beheimatung in Kultur als Kompensation und als Alibi einer zunehmend unheimatlichen und unheimlichen Welt.32

Ich möchte grundsätzlicher argumentieren. Jedes Sein, jede Existenz, jede Wahrnehmung fordert eine Wertung heraus und ein Urteil über die Form. Das heißt, wir verhalten uns zu dem Raum, in dem wir leben oder gelebt haben, und stellen immer auch eine Bedeutungshierarchie der unterschiedlichen Raumzuschnitte her, sei es, dass uns nur das Leben in der Nachbarschaft interessiert, sei es, dass uns nur die Politik auf der nationalen oder europäischen Ebene berührt. Wenn die Meinung der Anthropologen richtig ist, dass für jedes höhere Lebewesen der Bezug zu einem überschaubaren Lebensraum existenziell notwendig ist,33 dann werden wir für den lokalen und regionalen Raum eine besondere Verantwortung haben.

Handlungsspielräume können wir nur bestimmen, wenn wir in die Gegenwartsanalyse und den Zukunftsentwurf die Vergangenheit mit einbeziehen, mit den Gründen für das So-Sein der Gegenwart und vor allem mit dem riesigen Erfahrungsspeicher gelungener und misslungener Entwicklungen. In allen Zeitschichten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, fällen wir Urteile in den Dimensionen des Wahren: was war bzw. ist, des Guten: wie war es, ist es, soll es sein, und des Schönen: welche ästhetische Form hatte es, hat es, soll es haben.

Zu solch umfassender Aneignung von Kultur, Zeitschichten und Handlungsdimensionen im Zusammenhang zu sehen, sollte Bildung verhelfen. Unter Bildung versteht Bernhard Bueb in seinem Bestseller „Lob der Disziplin“, „sich das Wissen der Vorfahren aneignen, mit Hilfe dieses Wissens sein Leben deuten und daraus Impulse für sein Handeln gewinnen können… Bildung heißt daher, einen Menschen instand zu setzen, sich selbst und die Welt [seine Welt] zu erkennen und in ihr mutig zu handeln.“34

Im Lichte dieser Überlegungen bedeuten der Verlust des Vertrauens in Kultur, vorzeitig der wissenschaftlichen, ethischen und ästhetischen Barbarei das Feld zu räumen. Kultur kann sich nicht mit einer Rolle als Alibi oder Kompensation bescheiden, sondern muss ihre Funktion als wesentliche Heimatbedingung herausstellen. Kultur verurteilt sich aber zu hilfloser Nischenexistenz, wenn sie ihren Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung nicht reflektiert.

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