Elmar L. Kuhn

Kultur als Heimat


Kultur

Wechseln wir nun das Terrain und wenden uns dem zweiten Begriff zu: Kultur. Auch dieser Begriff schillert. Man kann zwei Bedeutungen unterscheiden, eine weitere und eine engere.

Im weiteren Sinn werden darunter die subjektive Seite von Gesellschaft, Lebens-, Denk- und Verhaltensweisen ganz allgemein verstanden.23 Das wird gängig auch auf einzelne Lebensbereiche angewendet: man spricht von Unternehmenskultur, Verwaltungskultur, politischer Kultur, Streitkultur. Das Wort Agrikultur verweist noch auf die Herkunft: cultura meinte nichts anderes als Ackerbau, Feldbewirtschaftung. In diesem weiteren Sinn wird Kultur heute als rein deskriptiver, nicht wertender Begriff gebraucht.

Als normativer Begriff meint er kultiviertes Verhalten oder noch enger die sog. Hoch-Kultur, also in neuerer Terminologie E-Kultur im Unterschied zu U-Kultur. Vor dem Medienzeitalter unterschied man Hochkultur von Volkskultur, wobei strittig ist, inwieweit die Volkskultur ein Widerstandspotential gegen die Herrschaftskultur barg oder nur Formen der abgesunkenen Hochkultur sich trivialisierend aneignete.24

Die Hochkultur der Vergangenheit war lange gemeineuropäisch und ruhte „auf drei Säulen: auf der Beherrschung einer gemeinsamen Sprache, dem Lateinischen, auf dem christlichen Glauben und dem durch die humanistische Gelehrsamkeit vermittelten Wissen“.25 Ziel war die Heranbildung von Persönlichkeiten als tätige Mitglieder von Gemeinwesen, deren Leitwerte noch die Einheit des Guten, Schönen, Wahren bildeten. Zum festen Lektürekanon zählten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fast ausschließlich antike und theologische Autoren. Im 19. Jahrhundert wurde er um zu Klassiker erklärten neuere Autoren erweitert, insbes. der Weimarer Klassik und einzelne außerdeutsche Autoren, wie z. B. Dante, Shakespeare, Molière.

Die zentrale Institution, die diese Inhalte vermittelte, war das humanistische Gymnasium. Natürlich erreichte das Gymnasium nur einen Bruchteil der Bevölkerung. Ein Schüler einer einklassigen Volksschule wird wohl nie etwas von Homer gehört haben. Aber dadurch wurde die klare Hierarchie der Bildungsinhalte nicht in Frage gestellt und die Religion bildete zumindest in katholischen Regionen den gemeinsamen, verbindenden Sinn-Horizont. Die humanistische Bildung verhinderte die Barbarei nicht. Der Lagerleiter eines KZ konnte antike Skulpturen bewundern, Hölderlin lesen und zu Hauskonzerten einladen.

Heute sind der Bildungskanon und der gemeinsame Sinnhorizont zerfallen. Konnte in der Vergangenheit das Leitbild immerhin noch kritisch gegen die Realität gewendet werden, so ist heute in allen Klassen der Bevölkerung die Realität zum Leitbild geworden, sie bedarf keiner Ideologie mehr. Leitbild ist der gewaltsam seine Interessen durchsetzende Rambo, sei es in den Chefetagen der Wirtschaft, sei es auf der Straße. An die Stelle einer hegemonialen Hochkultur ist eine Vielzahl changierender, poröser Teilkulturen der verschiedenen Sozialmilieus getreten,26 übertönt vom gigantischen Amüsierbetrieb der Medien, der „Kulturindustrie“, wie sie Theodor W. Adorno genannt hat.27

Schule betreibt heute Ausbildung, nicht mehr Bildung und Erziehung, vermittelt Nutzen, nicht mehr Sinn. Was früher zu Basis-Bildungswissen gehörte, kann nicht mehr vorausgesetzt werden. Ein Gutteil der älteren Kunst kann nicht mehr verstanden werden, da religiöse Grundkenntnisse fehlen. Selbst einfache Kulturtechniken, wie Sprachbeherrschung und Verständnis von Texten können heute von Gymnasiasten nicht mehr ohne weiteres erwartet werden. Der amerikanische Autor Morris Berman spricht vom „Kollaps der Kultur“, vom „geistigen Tod“, vom „Infantilismus als Ideologie“, die er auf die Durchkapitalisierung und die Erosion des Mittelstands zurückführt.28 Der Vorsitzende einer angeblich konservativen Partei und Ministerpräsident betrachtete die Handschriften, die in ähnlich dunklen Zeiten das Bildungsgut der Antike bewahrt haben, nur noch als Auktionsgut für reiche Amerikaner.

Qualitätskriterien anzulegen, um eine Seifenoper von einem Schiller-Drama zu unterscheiden, kann als anmaßend attackiert werden, die Aufführungen haben sich ja auch angeglichen. Dabei ist nicht zu bestreiten, dass die Werke der Hochkultur, des klassischen Bildungskanons, heute so leicht und so breit zugänglich sind, wie nie zuvor. Aber sie bleiben eine Preziosenabteilung neben vielen anderen, ein Regal im riesigen Supermarkt der Event-Kultur zu beliebigem, möglichst leichtem Konsum ohne jede Verbindlichkeit und ohne Zusammenhang.

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