Den Paulinern fehlen eine charismatische Gründerperson und paradigmatische spirituelle Texte. Regel und Konstitutionen enthielten keine expliziten Aussagen zur Spiritualität des Ordens. Aber ihr Interpret Gregor Gyöngyösi schrieb in seinen Erläuterungen zur 61. Rubrik der Ordenskonstitutionen: „hoc genus vite nostre mixtum sit complectens actionem et contemplationem“ und zitierte anschließend das gebräuchliche Bild vom Aufstieg zu Gott in Gebet, Kontemplation und Meditation und dem anschließend Abstieg „ad castra populorum“, um sich nicht nur selbst zu vervollkommnen, sondern auch den Nächsten zu nutzen56. Aber dieses Selbstverständnis traf erst für die Zeit des Interpreten und seine jüngere Vergangenheit zu. Ursprünge und Vorbild des Ordenspatrons hatten die Pauliner zunächst auf die „vita ascetica et eremitica als die vita perfectissima“57in Gebet, Meditation und Askese festgelegt. Die Anforderungen an Askese mit Schweigen, Fasten und Geißelungen blieben allerdings moderat. Das officium divinum feierten sie gemäß dem Gebrauch der Kanoniker, mit der Matutin um Mitternacht, die Liturgie aber ohne aufwendige Feierlichkeit. Im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert ließen sie eigene Breviere und Missalia für den Ordensgebrauch drucken, die bis 1600 in Gebrauch waren. An spezifischen Ordensfesten wurden u.a. gefeiert die Gedenktage der Ordenspatrone Paulus und Augustinus nach einem Beschluss von 1382 mit besonderer Feierlichkeit, des Wüstenvaters Antonius, des Hl. Benedikt, des Erzengels Michael und der ungarischen Nationalheiligen Stephan, Ladislaus und Emerich, sowie des Hl. Adalbert. Grundlage der Paulinerliturgie war der Ritus der Kanoniker von Esztergom, später übernahmen die Pauliner auch Elemente von den Augustiner-Chorherren, von der römischen Kurie und von den Dominikanern58.
Gegenüber wissenschaftlichen Studien verhielt sich der Orden sehr lange ablehnend. In der ersten Fassung der Konstitutionen wurden den Prioren als einzige Texte in ihren Konventen außer den liturgischen Büchern die Viten der Hl. Paulus und Augustinus samt ihren Translationen, die Geschichte der „visitacio Marie“ samt weiteren Heiligengeschichten vorgeschrieben59. Die spätere Fassung der Konstitutionen verbot Ordensangehörigen das Studium und erlaubte es nur vor dem Ordenseintritt60. Obwohl Papst Bonifaz IX. 1401 das Studium zugelassen hatte, wandte sich noch Mitte des 15. Jahrhunderts der Ordensgeneral Brictius, der selbst studiert hatte, gegen das „studium vanum vitandum“ und erlaubte an Lektüre nur „Evangelium Christi, vitae et collationes patrum, epistolae Pauli et canonicae ac Actus Apostolorum, deinde libri devoti“61, womit er Thomas a Kempis wörtlich zitierte. Gyöngyösi spezifizierte diese Vorschriften, indem er außer wiederum den Vitae patrum und Cassian folgende Bücher für die Novizenausbildung empfahl: „liber de claustro animae, mediationes b.Bernardi, orationes Anselmi, liber confessionum Augustini, collationes patrum, passiones et legendes sanctorum, vita patrum, Bernardus de gradibus suberbiae et de dilegendo Deum, tractatus de viciis et virtutibus, Prosper de vita contemplativa, Thomas Kempis, Antidotarius“62. Selbst gebildet, riet er dennoch, „magis vacent contemplationi quam studio litterarum“. Für den Generalprior hielt er Kenntnisse des Trivium für ausreichend63. Zunächst wohl generell bildungsabstinent, fügten sich die Pauliner im 14. und 15. Jahrhundert in den mainstream der spätmittelalterlichen „Reform- oder Krisenfrömmigkeit“ ein. Ablehnend gegenüber der Scholastik rezipierten sie Texte einer „monastischen Theologie“. Strittig ist, inwieweit sie von der devotio moderna beeinflusst wurden. Ungarische Forscher charakterisieren den paulinischen Lebensstil als „ungarische Variante des Devotenlebens“. Für Polen schreibt Marek Derwich den Paulinern „une dévotion très traditionelle, basée sur les idées du XII siècle“ zu, „le grand succès des paulins … n’a rien à voir avec la devotio moderna »64. Am frühesten öffneten sich inspiriert durch die corvinische Renaissance die Pauliner in Kroatien der Bildung, wo sie 1503 ein Gymnasium in Lepoglava eröffneten65. Bis zur Verpflichtung des Ordensstudiums auf die Lehre Thomas’ von Aquin in den Konstitutionen von 1643 war es noch weit.
Nennenswerte eigene Schriftsteller brachte der Orden erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts hervor, unter denen Thomas de Sabaria, Albertus Chanadinus, Valentinus Hadnagy, Casparus de Pesth, Gregorius Coelius Pannonius und vor allem Gregorius Gyöngyösi hervorragten. Sie alle haben fast nur Schriften für die Bedürfnisse ihres Ordens verfasst66. Mit der nunmehr verbindlichen Biographie ihres Ordenspatrons von Valentinus Hadnagy 1511 und den Werken Gregor Gyöngyösis ca. 1514 – 1520 suchte der Orden offenbar einen Textcorpus zu konstituieren, der für sein Selbstverständnis wegweisend sein sollte. Die ungarischen Wirren verhinderten aber eine tiefere Wirkung. Als der Orden im 17. und vor allem 18. Jahrhundert wieder eine Reihe von Werken über den Ordenspatron herausgab, hatte sich die Realität des nach ihm benannten Ordens bereits weit von dessen eremitischer „Perfektion“ entfernt.
Dem eremitisch-monastischen Selbstverständnis entsprach es, dass sich die Konstitutionen über die Seelsorge ausschwiegen. Aber zumindest seit dem 15. Jahrhundert engagierte sich der Orden immer mehr in der Seelsorge67. Für ihre Klosterkirchen hatten die Päpste 1417 das Predigtrecht und 1533 ein allgemeines Beichtprivileg verliehen. Damit erreichten die Pauliner zumindest in den Klosterkirchen, die sich zu großen Wallfahrtsstätten entwickelten, wie St. Laurentius bei Buda und der Helle Berg bei Tschenstochau, große Pilgermassen. Neben der Seelsorge für die eigene Klosterfamilie und Pilger übernahmen die Pauliner immer mehr auch die normale cura animarum in den ihren Klöstern inkorporierten Pfarrkirchen und Filialen. Diese neue Ausrichtung des Ordens spiegelt sich auch in der Zusammensetzung des einzigen erhaltenen mittelalterlichen Handschriftenbestandes eines Paulinerklosters, den Confessionalia, Sermonarien und Predigtbüchern , sowie den zur Ausbildung notwendigen theologischen Sammelhandschriften des Klosters Ranna in Niederösterreich68. Das Problem, vita contemplativa und vita activa auszutarieren, blieb dem Orden bis heute.