Die Gemeindereformen des 20. Jahrhundert wurden in der Regel im Stile eines aufgeklärten Absolutismus angeblich im Interesse der Bevölkerung, aber in der Regel ohne Berücksichtigung ihres Willens durchgesetzt. Ein diktatorisches Regime wie der Nationalsozialismus unterschied sich da nicht vom demokratischen Staat nach 1945. Die konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts verhielt sich bürgerfreundlicher und änderte kommunale Grenzen nur mit Zustimmung der Bürger. Wenn die Gemeinde die Keimzelle und Grundlage der Demokratie sein soll, dann muss die Verweigerung des Grundrechts verwundern, dass Bürger über den räumlichen Zuschnitt ihres Gemeinwesens entscheiden.
Nach den „Reformen“ der 30er-Jahre und der frühen 70er-Jahre wird bereits die nächste Verwaltungsreform herbeigeredet. Andere Länder kümmern sich um wichtigeres. Keines unserer großen Nachbarländer ändert dauernd seine Verwaltungsstrukturen. In Österreich, in der Schweiz und in Frankreich sind die Gemeinde- und Bezirkseinteilung seit zwei Jahrhunderten im wesentlichen unverändert geblieben. Sie verwalten sich sicher nicht schlechter als wir. Demokratischer Gemeinsinn setzt Stabilität voraus, Bürger können sich nur mit einem Gemeinwesen identifizieren, dessen Zuschnitt sich nicht dauernd ändert. Kressbronn kann da nicht als Gegenbeispiel dienen, die beiden Gemeindehälften waren schon vor 1934 vielfältig miteinander verflochten, deshalb waren die strukturellen Voraussetzungen günstig. Die Zustimmung der Bürger zur Vereinigung hätte sich bei einem weiteren räumlichen Zusammenwachsen wahrscheinlich nach einigen Jahrzehnten ohnehin erreichen lassen. Auch Geduld ist eine demokratische Tugend, angeblicher technokratischer Zwang nicht. Wenn Politikern gar nichts mehr einfällt und wenn sie sonst nichts zustande bringen, machen sie eine Verwaltungsreform, um Aktionismus vorzuführen. Bei einem Zeitgeist, wo das Neue allemal als besser als das noch so bewährte Alte gilt, sind ihre Erfolgsaussichten nicht schlecht.
Veröffentlicht in: Kressbronner Jahrbuch 1984, S. 6-12; 2001, S. 34-39; 22, 2008/09, S. 92-95.