Elmar L. Kuhn

Kulturamt Bodenseekreis 1979-2009


 

Erforschen

Bewahren, Sammeln, Erfassen und damit Bereitstellen für andere Benutzer ist eine wesentliche Aufgabe des Kulturamtes. Aber wir haben es stets auch als unsere Aufgabe betrachtet, selbst die Kenntnisse über unsere Geschichte und Kultur zu erweitern und damit den „Nebel über dem See“ zu lichten.18Viele unserer Forschungen waren Auftragsarbeiten, viele Texte wurden zu bestimmten Anlässen wie Jubiläen geschrieben. Dennoch lassen sich thematische Schwerpunkte erkennen: Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Feudal- und Industriezeitalters, historische Zäsuren und soziale Bewegungen vom Bauernkrieg bis zur Gegenwart, die vormoderne Territorialgeschichte, Streiflichter auf das 19. und 20. Jahrhundert, in den letzten Jahren vor allem die Kirchen- und Ordensgeschichte, während all der Jahre die Baudenkmäler und die regionale Kunstgeschichte.

Die Landwirtschaft war bis weit ins 19. Jahrhundert die Lebensgrundlage für etwa 90% der Bevölkerung. Ohne die Kenntnis der Agrarstruktur, der feudalen und genossenschaftlichen Bindungen, der Anbau- und Ertragsverhältnisse, der Marktsituation und der sozialen Schichtung lässt sich folglich die Geschichte unserer Region nicht verstehen und schreiben. Das Kulturamt hat deshalb Aufträge für eine Reihe von exemplarischen Studien in einzelnen Dörfern an Examenskandidaten der Universität Konstanz vergeben, die unsere Kenntnisse über die wesentlichen Lebensbedingungen auf dem Lande sehr erweitert haben. Petra Sachs-Gleich betont in ihrer Zusammenfassung das „von Ort zu Ort unterschiedliche Beziehungsgeflecht von Faktoren“, für alle aber bedeutete „Leben in der Landwirtschaft … alltägliche Existenzbedrohung“, permanente „Gratwanderung“.19 Wirtschafts- und Sozialgeschichte bedürfen einer soliden statistischen Grundlage. Die Bearbeiter der erwähnten Dorfstudien haben diese Daten jeweils erstmals ermittelt, in mehreren Bänden hat das Kulturamt die Daten zur Berufs-, Betriebs- und Landwirtschaftsstatistik des 19. und 20. Jahrhunderts für ganz Oberschwaben und teilweise das Bodenseegebiet zusammen gestellt. Letztere dienten als Grundlage, um erstmals einen begründeten Überblick über die Wirtschaftsgeschichte des Bodenseeraums und Oberschwabens von der frühen Neuzeit bis zum 20. Jahrhundert mit der Abfolge der Leitsektoren Landwirtschaft, Leinwand, Baumwolle, Stickerei , Metallindustrie und dem in den verschiedenen Teilräumen unterschiedlichen Industrialisierungsverlauf geben zu können.20Fallstudien widmeten sich der Industrie in Friedrichshafen. Allzu lange war ihre Geschichte eine Geschichte von genialen Erfindern und Konstrukteuren und kühnen Flugkapitänen. Umfangreiche Recherchen in den Firmenarchiven legten eine Grundlage für eine Unternehmensgeschichte bis in die 1930er Jahre. Die Geschichte der Betriebskrankenkassen behandelte einen wichtigen Teilaspekt der Lebensbedingungen der Arbeiter. Eine detaillierte Auswertung der Geschäftsberichte der mittlerweile liquidierten Firma Dornier in Immenstaad ergab beeindruckende Einblicke in das Geschäftsgebaren eines beständig unterkapitalisierten und weitgehend von Staatsaufträgen abhängigen Unternehmens.21 Entsprechend ihrer Bedeutung für den Kreis waren auch Schiffahrt22und Tourismus23Themen von Forschungen des Kulturamtes.

Arno Borst kommt zu dem Ergebnis: „Am Bodensee stürmt auf die Anwohner immer wieder anders Geschichte ein, mehr Geschichte, als sie verkraften können.“24Aber immer wieder haben die Menschen auch am See versucht, ihre Geschichte selbst zu gestalten und ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Eine demokratische Gesellschaft wird diesen Versuchen einen besonderen Rang in ihrem Geschichtsbewusstsein zumessen. Entsprechend hat das Kulturamt den sozialen Bewegungen stets besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Widerstand gegen Rechtsverschlechterungen leisteten die Bauern vielfach schon im Spätmittelalter.25In der größten Volksbewegung nicht nur in der Geschichte der Region erhoben sich die Bauern 1525. Erstmals wurden alle verfügbaren Quellen zur Geschichte des Seehaufens im Bauernkrieg von 1525 zusammengestellt und konnte auf dieser Grundlage detailliert seine Organisation, seine Aktionen und die Biographien seiner Führer dargestellt werden. Die Bauern des Seehaufens blieben aufgrund ihrer militärischen Stärke und des Weingartner Vertrag von Strafaktionen verschont, ihre Führer, durchweg Honoratioren der Region, behielten ihre Ämter oder machten sogar nach ihrem Aufstand noch Karriere.

Als in den Revolutionskriegen Ende des 18. Jahrhunderts absehbar war, dass sich die politische Landkarte Süddeutschlands grundlegend verändern würde, forderte ein unbekannter Verfasser seine Mitbürger auf, eine Republik Oberschwaben zu auszurufen und ein Parlament zu wählen. Ein Aufsatz machte diese bisher kaum bekannte Flugschrift bekannt.26

An der Erinnerung an die Revolution von 1848/49 beteiligte sich der Bodenseekreis mit einer Ausstellung und Publikationen über die Rolle der Geistlichen, die Beziehungen zur Schweiz und die revolutionäre Verwaltung. Schon früher waren Aufträge für Biographien der beiden führenden Persönlichkeiten, den Kaplan Pfahler im Oberamt Tettnang und den Pfarrer Uhlmann im Linzgau vergeben worden.27

Im Geschichtsbild der Region spielte bisher die Revolution von 1918/19 keine Rolle, obwohl aus den allgemeinen Revolutionsdarstellungen durchaus hätte bekannt sein können, dass in Friedrichshafen am frühesten Demonstrationen mit revolutionären Forderungen stattgefunden hatten und die Stadt in Württemberg als „Hochburg des revolutionären Vortrupps“ galt. Ein großer Aufsatz analysierte die Vorgänge in den Oberamtsbezirken Oberschwabens und stellte die verschiedenen Formen der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- und Bürgerräte mit ihren Anführern vor.28Es war keine oberschwäbische Revolution, sondern eine Revolution in einigen Städten Oberschwabens, bei der die Akteure die Änderungen von oben erwarteten. „Was die einen wollten, weckte existenzielle Ängste der anderen.“ So wurde versäumt, die neugebildete Republik besser zu fundieren.

Nach dem „Zivilisationsbruch“ des Nationalsozialismus wurde versucht, in Aulendorf einen „kulturellen Mittelpunkt für Oberschwaben“ begründen, in dem „an einer grundlegenden Neuorientierung unseres sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens“ gearbeitet werden sollte. Erstmals wurde in den Programmen und Veranstaltungen der in Aulendorf 1945 gegründeten Gesellschaft Oberschwaben versucht, über die „lebendige, universale, christliche Tradition“ dieser Landschaft zu reflektieren und daraus Ziele für die Neuordnung der Gesellschaft zu bestimmen, ein Versuch, der bald in Widerspruch zu den Zielen der regionalen Eliten geriet. Die damaligen, nach wie vor beispielhaften Ansätze und ihr nicht eingelöster Anspruch wurden im Zusammenhang mit der Wiedergründung einer Gesellschaft Oberschwaben 1996 wieder bedacht.29

Bis nahe zur Gegenwart wagt sich eine Studie über die Rolle der Bürgerinitativen in der Kommunalpolitik.30

Es fehlten für ein breiteres Publikum lesbare Darstellungen der wichtigern Territorien am See vor 1800. Mit vergleichbarer Konzeption gab das Kulturamt unter Beteiligung vieler Autoren zwei gewichtige Werke über die Grafen von Montfort und die Bischöfe von Konstanz heraus.31Ein Ausstellungskatalog behandelt die „Wendezeit am See“ um 1800.32Die Rolle des Adels in Oberschwaben über die Zäsur von 1806 hinweg verfolgt das mehrbändige Werk „Adel im Wandel“.33

Exemplarische Schlaglichter auf die politische Geschichte, vor allem die Kommunalpolitik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts werfen eine Reihe von Aufsätzen über einzelne Gemeinden.34Dokumentationen zur NS-Zeit wurden publiziert für Markdorf, Tettnang und Überlingen.35

In den letzten Jahren bildete die Kirchen-, vor allem die Ordensgeschichte einen Schwerpunkt der Forschungen des Kulturamts. Das scheint begründungsbedürftig. In den ersten Jahren bestand ein Nachholbedarf an Kenntnissen vor allem in der Wirtschafts-, insbes. der Industriegeschichte, der Geschichte der Volksbewegungen, der Geschichte der Arbeiterbewegung als bisher „ausgesperrte Geschichte“. Mit der hauptamtlichen Besetzung des Stadtarchivs und des Zeppelin-Museums befassen sich jetzt diese Institutionen mit der Geschichte der Friedrichshafener Industrie.

Heute gilt es der Verkürzung der historischen Kenntnisse, ihrer Beschränkung auf die Zeitgeschichte und dem Verlust an Vertrautheit mit den geistigen Traditionen Europas entgegen zu wirken. Den Säkularisierungsprozess Oberschwabens vom Barock bis zur Gegenwart und den Wandel der Kirchenmodelle von der barocken Reichskirche, über die aufgeklärte Staatskirche, die ultramontane Papstkirche bis zur „Erosion der Gnadenanstalt“ beschreibt ein größerer Aufsatz anlässlich der Erinnerung an die Säkularisation 2006. Für einen kürzeren Zeitraum kann am Beispiel Friedrichshafens die Abfolge der Kirchenmodelle von der triumphierenden, zur kämpferischen und schließlich leidenden Kirche 1900-1945 gezeigt werden.36

Die Orden bilden in der katholischen Kirche charismatische Parallel-Institutionen zur hierarchischen Kirchenstruktur. Die im Kreis und in Oberschwaben vertretenen großen Prälaten- und Bettelorden sind gut erforscht. Dagegen gab es über den im 12. Jahrhundert in Ungarn gegründeten Paulinerorden, dessen Provinzialprior der schwäbischen Provinz in Langnau bei Tettnang residierte, so gut wie keine Literatur in deutscher Sprache. Mittlerweile wurden eine Reihe von Studien zu Spiritualität, Verfassung, Wirtschaft, Sozialstruktur, Ikonographie und der Verbindungen der schwäbischen Provinz mit dem Hauptverbreitungsgebiet des Ordens in Ostmitteleuropa veröffentlicht.37

Seit das Kulturamt im ehemaligen Zisterzienserkloster Salem untergebracht ist, hat es mehrere Publikationen zur kulturellen Ausstrahlung dieser Abtei herausgegeben.38

Vor allem dem Wirken zweier langjähriger Mitarbeiterinnen des Kulturamtes sind die vielen Forschungen über die Baudenkmäler des Kreises und zur Kunstgeschichte zu verdanken. Petra Sachs-Gleich hat als Kreisarchivarin sich vor allem mit den ländlichen Baudenkmälern und ihrer Bedeutung als Quellen der Agrargeschichte befasst.39Daneben klärten Studien die Bau- und Ausstattungsgeschichte der Pfarrkirche Eriskirch, von Schloss und Spital Langenargen und der Wallfahrtskirche Birnau.40Eva Moser hat als Leiterin der Galerie Bodenseekreis viele Publikation zur Kunstgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart verfasst oder betreut. Hervor zu heben sind die Veröffentlichungen zur Buch- und Wandmalerei, zu den Kunstaufträgen der Grafen von Montfort und der Bischöfe von Konstanz, zur Mimmenhauser Werkstatt, zu den Malerreisen im 19. Jahrhundert, der Künstlervereinigung „Der Kreis“ der 1920er Jahre, zur Sezession Oberschwaben-Bodensee, zur Kunst der klassischen Moderne und der Gegenwart in der Region und zu vielen einzelnen Künstlern, zum Grafik Design und zur frühen Fotografie.41

Einige Überblicksdarstellungen fassten die Kenntnisse zusammen. Die Mitarbeiter/innen des Kulturamtes verfassten die historischen und kunsthistorischen Texte des Kreisführers.42Ein Band versammelte Essays der besten Fachkenner zu Geschichte und Kultur Oberschwabens.43Im Auftrag der Gemeinden gab das Kulturamt die Gemeindegeschichten von Immenstaad und Owingen heraus.44

Es bleiben große Defizite, Aufgaben für weitere Forschung: So kennen wir zwar jetzt die Agrarstruktur im 18. und 19. Jahrhundert besser, aber die Langzeitentwicklung über die Jahrhunderte hinweg liegt noch im Dunklen.45Fast alles, was wir über die Geschichte des Nationalsozialismus in der Region wissen, haben engagierte Lehrer und Lehrerstudentinnen ermittelt. Über Alltag, Täter und konkrete Politik vor Ort ist noch wenig bekannt. Mit den Mechanismen und Akteuren der Kommunalpolitik, der Politik, die über die Gestalt unserer hiesigen Umwelt entscheidet, hat sich noch nie jemand gründlicher befasst.46

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